Das Sigmund-Freud-Institut. Forschungsinstitut für Psychoanalyse und ihre Anwendungen trauert um Prof. Dr. med. Heinrich Deserno.
Heinrich Deserno war ab 1981 beinahe 30 Jahre lang als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Psychoanalytiker in Forschung und Klinik am Sigmund-Freud-Institut (SFI) in Frankfurt/M. tätig. Von 2005 bis 2010 leitete er überdies die Ambulanz des Instituts, war Mitglied des Direktoriums und zudem besonders engagiert im Bereich der Psychotherapieforschung. Heinrich Deserno forschte, u.a. anknüpfend an vorausgehende Erfahrungen in der Abteilung von Stavros Mentzos in der Psychosomatischen Abteilung des Universitätsklinikums Frankfurt, zu Angststörungen und ihren Behandlungsmöglichkeiten im Kontext psychoanalytischer Settings und führte am SFI gemeinsam mit Marianne Leuzinger-Bohleber eine Studie zur Langzeittherapie von chronisch depressiven Patienten durch. Heinrich Deserno initiierte im Zuge dessen das bis heute fruchtbare Format der ‚Klinischen Konferenzen‘ am SFI, in denen gemeinsam mit niedergelassenen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten klinische Fragen erörtert, Forschungskonzepte und Kasuistiken diskutiert werden.
Weitere Schwerpunkte lagen, auch disziplinübergreifend und dabei u.a. auf Fritz Morgenthalers Traumstudien und Traumseminare bezugnehmend und in Zusammenarbeit mit Reimut Reiche, in der vertieften Auseinandersetzung mit Traum und Übertragung sowie mit Varianten der Traumanalyse. Heinrich Deserno untersuchte anhand von Fallrekonstruktionen die Dynamik von Traumerlebnissen und Traumerzählungen im Zusammenhang des psychoanalytischen Prozesses sowie die Interferenzen von Traum und Übertragung im therapeutischen Setting. Er arbeitete spezifische Erkenntnismöglichkeiten bei der Erforschung von Traumserien heraus und publizierte über die narrativen und bildhaften, kommunikativen und in die Übertragungsbeziehung eingebetteten Dimensionen der Untersuchung von Träumen. In dem von ihm herausgegebenen Band „Das Jahrhundert der Traumdeutung. Perspektiven psychoanalytischer Traumforschung“ bot er einen Überblick über die psychoanalytische Traumforschung seit Freud als einen wesentlichen Bereich psychoanalytischer Grundlagenforschung.
Desernos Untersuchungen der Prozesse psychischen Arbeitens waren auch angeregt durch die Kooperation mit der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie im Universitätsklinikum Ulm. Im Rahmen der ‚Ulmer Forschungswerkstatt‘ war er gemeinsam mit Horst Kächele in Arbeitsgruppen und Workshops aktiv, die sich mit der Auswertung von Transkripten gemäß dem Verfahren des Zentralen Beziehungskonfliktthemas (ZBKT, Luborsky) beschäftigten und Aufzeichnungen von Analysestunden auswerteten. Die Prozessforschung war für Heinrich Deserno von besonderer Bedeutung, auch weil sie die psychoanalytischen Theorien zur Übertragung, zum Arbeitsbündnis und dem therapeutischen Prozess auf minutiös rekonstruierbare Therapieverläufe zu beziehen erlaubte.
Mit im Zentrum seiner wissenschaftlichen Tätigkeiten lagen vor diesem Hintergrund zudem psychoanalytische Konzeptforschung und Theoriebildung. In seiner Monographie über das Arbeitsbündnis plädierte er für ein konsequentes radikales Verständnis von Übertragung und kritisierte das für die psychoanalytische Arbeit viel rezipierte Konzept des Arbeitsbündnisses von Ralph Greenson, das meist als eine Art ‚rationaler‘ Basis der Arbeit mit dem Patienten aufgefasst wurde. Deserno zeigte dabei auf, dass dieses Konzept dazu tendiere, die Beteiligung des Analytikers an der Gestaltung des Übertragungsprozesses auszublenden. Und er ging davon aus, dass die Annahme, es gäbe im analytischen Setting gleichsam Bereiche »außerhalb« der Übertragung geradezu „zum Einfallstor unhinterfragter gesellschaftlicher, an Arbeits- und Leistungsbegriffen orientierter Konventionen werden kann“. Eine unreflektierte Orientierung am Konzept des Arbeitsbündnisses unterminiere daher, so seine Kritik, auch das kritische und emanzipatorische Potential der Psychoanalyse.
Heinrich Desernos disziplinübergreifendes Interesse brachte sich in unterschiedlichen Forschungen und Publikationsschwerpunkten zum Ausdruck: Im Bereich der Geschlechtertheorie befasste er sich insbesondere mit der Psychoanalyse der Männlichkeit. In seinen theoretischen Arbeiten zum psychoanalytischen Symbolbegriff und zur Symbolisierung ging es ihm zugleich um Grundlagen auch für die interdisziplinären Kooperationszusammenhänge mit Literatur- und Kulturwissenschaften und um methodische Fragen der Deutung von Kunstwerken. Er verfasste verschiedene Beiträge zur Literaturanalyse, etwa Interpretationen von Novellen von Dieter Wellershoff, und war zudem beratendes Mitglied des Freiburger Arbeitskreises ‚Literatur und Psychoanalyse‘. Gemeinsam mit seiner Frau Susanne Graf-Deserno publizierte er über psychoanalytische Teamsupervision. Darüber hinaus engagierte er sich in verschiedenen Institutionen in Lehre und Ausbildung, als Supervisor und Lehranalytiker der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung; bis zu seinem Wechsel an die IPU Berlin führte er kontinuierlich Lehranalysen durch. Übergreifend förderte Heinrich Deserno in seiner zugewandten und fürsorglichen Haltung zahlreiche jüngere Kollegen und Kolleginnen in klinischen und wissenschaftlichen Kontexten. Als er 2010 an die Internationale Psychoanalytische Universität in Berlin wechselte und dort eine Professur bekleidete, führte er als Hochschullehrer dieses Engagement und viele seiner Arbeitsschwerpunkte fort und setzte zugleich neue Impulse.
In dankbarer Erinnerung nehmen wir Abschied von einem über so viele Jahre am Sigmund-Freud-Institut kompetent und kreativ wirkenden Kollegen und Lehrenden, einem engagierten Psychoanalytiker und vielseitigen Wissenschaftler.
Vera King, für das Direktorium und Institut